Freistil

Shakespeare
The Sonnets


56

Süße Liebe, stärke dich, dass man nicht sag,
dein Schneid sei stumpfer als der Appetit,
der, wenn auch heut gestillt, am andern Tag
zu früh’rer Macht geschärft den Morgen sieht.

So sei, Liebe, auch: wenn heute gierig füllst
dir deine Augen bis sich der Blick vor Fülle senkt,
sieh morgen auf, wenn du nicht töten willst
durch dauernd Dumpfheit, was der Geist der Liebe schenkt.

Dieses triste Interim sei der Ozean,
der Küsten trennt – wo zweie neu vereint
ans Ufer täglich treten – und, sehn sie nahn
verjüngte Liebe, mehr verheißend scheint.

Oder nenn es Winter, der, von Sorgen voll,
macht Sommers Gruß dreimal so schön, so toll.

Ü: Inga Nevermann-Ballandis, 2005

56

Stärkst du dich, süße Liebe, stets von neuem, wird keiner sagen, du hättst den Schneid verlorn. Denn wie der Appetit heut durch Nahrung wird besänftigt und morgen schon von neuem mächtig wird entfacht, so sei doch, Lieb’, du auch: Füll heute deine Augen und schließ sie übersatt, dann schau dich hungrig um am nächsten Tag. Und niemals lass die Lust an immer gleicher Fadheit und ohne Salz verenden. Sieh lange Weile unterdessen als einen Ozean, der jene Küsten trennt, an deren Ufer neu Vereinte täglich treten. Und sehen zwei die Liebe wiederkehren, verheißt die Aussicht umso mehr.

Wie auch im kalten, klammen Winter die Hitze eines Sommers wird dreimal so sehr gewünscht, so sehr gesucht.

Ü: Inga Nevermann, 2008

116

Lasst mich die Hochzeit treuer Herzen nicht
erlauben zu verwehr’n. Liebe ist nicht Liebe,
die durch Verwandlung wankelmütig bricht,
die folgt dem Dieb und schließlich bei ihm bliebe.

O nein, sie bleibt für immer festes Zeichen,
weist jeder Jolle unbeirrt den Weg als Stern;
bietet dem Sturm die Stirn, wird niemals weichen –
unschätzbar sein Wert, obwohl doch hoch und fern.

Lieb’ lässt sich von Zeit nicht narren, ob bald
schon verfallen einst rosig Lippen, Wangen…
Lieb’ ist nach solcher Weile längst nicht alt:
sie trägt’s, wird selbst ans Zeitende gelangen.

Wär dies ein Irrtum und mir zur Last gelegt,
hätt ich nie geschrieben, noch Liebe nie gehegt.

Ü: Inga Nevermann-Ballandis, 2005

116

Gegen die Vermählung treuer Seelen lass’ ich keinen Ein­wand zu. Denn es wär die Liebe keine, die sich wandte, wenn sie auf Wendung trifft, oder sich dem Diebe beugte, um selbst sich fortzustehlen. Oh nein, sie ist das immer feste Land, das Stürmen trotzt, wird niemals beben; sie ist der Fixstern jeder Barke ohne Ziel. Dessen Höhe lässt sich wohl bemessen, doch un­ermesslich ist sein Wert. Liebe macht sich nicht zu Äons Kasper, selbst wenn Rosen, Lippen, Wangen unter seiner Sichel fallen; Liebe ist nicht wie seine Stunden, Wochen flüchtig, sondern die bis an sein Ende trägt.

Sollte all dies Irrtum sein und würde mir bezeugt, so schrieb ich nie, noch liebte nie ein Mann.

Ü: Inga Nevermann-Ballandis, 2008